Wenn Hände sprechen könnten
Edel sah er aus, der goldene Ring am rechten Ringfinger. Du legtest ihn nie ab. Ach halt, das stimmt nicht. Irgendwann schnitt die Zange ihn durch, der blaue Finger erholte sich schnell. Goldene Hochzeit sollte es werden. Doch die Hand, mit der du durchs Leben gingst, wurde viel zu früh kalt. Können Hände sich erinnern? Ja, wie du siehst, können sie das. Auch bei Alzheimer? Schwierig, ich kann die Lebenspartnerhand nicht fragen, auch wenn ihre Überreste nicht weit weg von mir liegen.
Also gut. Ich verstehe nicht, was ich sagen soll, jetzt, wo von mir nur noch die Knochen verstreut in trockener Erde liegen? Vor Jahren wäre ich dir gerne mit Tipps behilflich gewesen, hätte dir ‚Pianist werden!‘ zugerufen. Lach nicht! Ich weiß, ich weiß – so wahrscheinlich wie ein Schnitzel an Karfreitag. Lag doch bereits der Gestank des nahenden Krieges so unausweichlich in der Luft wie das Schwefelgas der Siedlungskokerei. Überzog verbrannte Kohle die Wäsche mit ihrem grau. Arbeitshände wurden gebraucht! Feingliedrig oder gar virtuos? Pah! Nutzlos. Bin ich heute übrigens auch.
Zurück zu deiner Frage. Ich starte mit einer Liebeserklärung, mein jüngeres Ich: Ihr wart so schön und dennoch kräftig! Durch all die Zeit. Die Fingernägel so gerade gewachsen, eingebettet in rosa Nagelhaut, von unserem Menschen stets kurz gefeilt und sauber gehalten. Kein Platz für Trauerränder, der scherzhafte Ausdruck für Dreck unter den Nägeln. Kannst du dich noch an den beißenden Geruch der Waschpaste erinnern, mit dem uns unser Mensch häufig schrubbte? Er nannte es Seifensand. Das Peeling der Nachkriegszeit. Juckende Haut inklusive. Du hättest Handcreme auftragen sollen. ‚Kokolores!‘ hätte unser Mensch ausgerufen, nicht wahr?
Was ich dir raten würde? Mir fällt es schwer, weit über 80 gelebte Jahre Revue passieren zu lassen. Womit beginnen? Etwas Wichtiges fällt mir ein: ‚Lass zu, dass jemand dich in seine eigene Hand nimmt.‘
Wirf die kindliche Unsicherheit, mit der du deine zitternden Finger in der Hosentasche vergräbst, gleich mit aus dem Zug, der dich Richtung Nirgendwo bringt!
Kinderlandverschickung. Einsamkeit. Du hättest sie einfach greifen sollen, die Hand der fremden Frau neben dir. Ihre Wärme und ihren sanften Druck zulassen. Zuversicht gegen die Angst und Schutz vor Zittern und Frieren. Man muss nicht alles mit sich alleine ausmachen. Nicht als Kinderhand und nicht als Männerhand. Ja, ja, andere Zeiten damals. Aber du fragst, also höre auch zu, was ich zu sagen habe.
Geschlagen hast du nie, darauf bin ich stolz. Raufereien mit Fäusten, das Gesetz des Stärkeren? Nicht dein Stil. Lieber heimlich, etwas listig. Die schlanken Finger greifen ganz nebenbei und führen unbemerkt in den hungrigen Mund. Ja, das war okay, damals. Auf die gleiche Weise, heimlich und etwas listig, hast du den kleinen Bruder unseres Menschen gezwickt. Sollte er doch schreien. Das ewig kranke Kind, der ganzen Aufmerksamkeit seiner Mutter gewiss. Was soll ich sagen? Ein Wimpernschlag im Universum. Vergessen.
Ach, noch etwas Bedeutendes fällt mir ein. Hör genau zu:
‚Du hättest mehr streicheln sollen!‘ Jawohl! Jetzt komm mir nicht wieder damit, was eine Männerhand tut oder nicht. Weißt du noch, wie sich der kleine, zarte Kopf mit Käseschmiere in der schwieligen Fläche anfühlte? Das war doch schön, oder? Er passte ganz hinein. Davon wolltest du mehr und bekamst es auch. In den Fünfzigerjahren packtest du die hölzernen Griffe des Kinderwagens ganz fest und schobst ihn stundenlang durch die Straßen. Die Nachbarn des Menschen tuschelten hinter den Gardinen. ‚Schau dir den an, hat der nichts Besseres zu tun?‘ Das war unserem Menschen egal. Der fragte auch nicht danach, was ein Mann tut oder nicht.
Winken ist ein beständiges Ritual. Hoffen auf ein Wiedersehen. Als Kinderhand, als Greisenhand. Das ist übrigens auch das letzte, woran ich mich erinnere. Wie ich die Finger spielen ließ – leicht sollte es aussehen. Und doch anstrengend war die Bewegung. Sie fühlte sich gut an. Selbstbestimmt. War sie doch die einzige, die ich ausführen konnte. Corona setzte unserem Menschen nicht zu, die Isolation schon. Eine Verabredung am Fenster, die Tochter winkt auch, das war grausamer als der Krieg. Vermummte Gestalten betreten nur widerwillig das Zimmer, bringen den Geruch von Kohl und Desinfektionsmitteln mit. Kein Kontakt von Haut zu Haut. Über Wochen. Aber ich werde sentimental. Die Jüngeren halten mich vermutlich für undankbar, wenn ich so rede. Sie meinen es ja nur gut. Ich will sie nicht verärgern. Daher werde ich jetzt schweigen, wie ich es immer tat.
Was du noch hättest anders machen können? Ach, eigentlich nichts. Immer zuverlässig und beständig im Einsatz. Danke für Schönheit und Eitelkeit. Danke fürs Zupacken, Festhalten, Bewahren, Entdecken und Begreifen. Alles ist gut. Ein letztes Ciao und winke winke!