Tanja Samson schreibt

Leseprobe
Von wegen Boomer

Mit flinken Fingern kettete die Frau mit der blauen Haarsträhne seine Hände und Füße an die Bettpfosten. Den Schlüssel für die Handschellen steckte sie ein.

»Viel Spaß«, wünschte sie ihm. Obwohl er wusste, dass er den unbedingt haben sollte, spürte er sein Herz im Hals klopfen.
»Deine Teamkollegen werden dich schnell befreien«, munterte sie ihn auf, während sie zur Tür ging. »Die längsten haben fünfzehn Minuten gebraucht. Wenn irgendwas ist, einfach laut schreien. Dann brechen wir sofort ab. Noch irgendwelche Fragen?«
Ferdinands Mund war bereits so trocken, dass er nur noch krächzen konnte. »Nein.« Im Stillen fragte er sich, ob er dankbar sein müsste – immerhin war er nicht geknebelt worden.
Als die blaue Haarsträhne das Licht ausknipste und die Tür schloss, fielen ihm weitere Fragen ein. Vor allem Fragen an sich selbst. Wie hatte er sich auf so einen Schwachsinn einlassen können? Gehörte so was neuerdings zu den Aufgaben eines guten Vaters? Er fühlte sich völlig ausgeliefert, hilflos, genauso wie als kleiner Junge nach einem Albtraum. Nur mit voller Konzentration gelang es ihm, nicht um Hilfe zu rufen, nicht an den Handschellen zu reißen. Nach einer Weile glaubte er, im Nachbarraum Flora und Raffi rufen zu hören. Oder halluzinierte er? Wie viel Zeit war schon vergangen? Fünfzehn Minuten – eine Ewigkeit! Aber seine Kinder waren klug und schnell. Sie würden es früher schaffen. Und seine Kinder waren gnadenlos. Wie konnten sie ihm so was antun!
Plötzlich eine laute Stimme von irgendwoher: »Benutze deinen Kopf, Paul!«
Galt das ihm? Vermutlich. Er war jetzt nicht mehr Ferdinand, der Mann von Vera und der Vater von Flora und Raffi. Sondern Paul. Und seine Kinder waren nicht gnadenlos, sondern folterten ihn aus Liebe, damit er mehr Spaß am Leben hätte. Es war also eine tolle Idee und total lustig, und er war freiwillig hier. Freiwillig erpresst.
Aber was sollte das heißen, den Kopf benutzen? Ihm war übel. Das Atmen fiel ihm schwer. Lüfteten die eigentlich manchmal? Wie viele Leute wurden hier täglich angekettet und dünsteten ihre Todesangst aus? Benutz deinen Kopf. Schon wieder war es ihm, als höre er aus dem Nachbarraum die Stimmen seiner Kinder. Nur ganz schwach. Riefen sie ihm etwas zu? Er sollte laut vorlesen? Was denn, um Himmels willen, hier im Dunkeln? Laut Meinung seiner Kinder sollte er so einiges. Manchmal kam es ihm vor, als wären die Rollen vertauscht. Seine Kinder nervten ihn, indem sie ihm sagten, was er tun sollte. Vor allem sollte er raus aus der Komfortzone. Eine Challenge hatten sie ihm verpasst – für mehr Lebensfreude im Alltag, als hätte er jemals geklagt. Dabei gab es überhaupt keinen schöneren Ort als sein Sofa, auf dem er nach seinem anstrengenden Job zur Ruhe kam. Aber die Kinder unterstellten ihm, dass er sich darauf langweile. Ein guter Vater war heute ein aktiver Vater. Der lungerte nicht vor dem Fernseher rum, der war sportlich und aktiv, allem Neuen gegenüber aufgeschlossen, stets interessiert, verständnisvoll und dabei tiefenentspannt. Auf neudeutsch: gechillt. Was hatte Raffi noch zu ihm gesagt? ›Du hustlest von Montag bis Freitag im Job gefühlt 24/7, da könntest du wenigstens am Wochenende mal wieder Spaß haben.‹ Spaß? Jetzt die Bundesliga in Konferenzschaltung live mitverfolgen, das wäre Spaß! Aber nein, so sollte er nicht denken. Sie taten das alles nur für ihn. Ja, für – nicht gegen ihn! Seine Kinder hatten einfach andere Vorstellungen davon, wie sein Leben auszusehen hätte. Verdrehte Welt. Normalerweise hatten Eltern eine Vorstellung vom Leben ihrer Kinder.
»Benutze Deinen Kopf, Paul.« Ja, verdammt, das machte er doch dauernd. Gleich würde er schreien und nicht mehr damit aufhören. Genauso wie man sich das vorstellte in einem Escape Room, wie hieß das noch mal übersetzt: Fliehen, mit dem Leben davonkommen. Das wollte er. Und zwar mit seinem alten Leben, nicht diesem neuen, das ihm seine Kinder und seine Frau aufzwangen.

Vor dreißig Minuten hatte alles so harmlos angefangen auf einem unbequemen Sofa im Vorraum der Spielhölle, auf dem man nur durch betont cooles Zurücklehnen die Ohren aus dem Einzugsbereich der Knie bringen konnte. Genauso unangenehm das süffisante Lächeln der jungen Dame mit der blauen Haarsträhne und dem Augenbrauenpiercing, die ihn ermunterte, die Rolle von Paul – die Hauptrolle, versteht sich – in diesem Escape Game zu spielen. Ferdinand war darauf reingefallen. Hatte sich agil in Aktion gesehen, ganz Indiana Jones, mit Fackeln in der Hand und Filmmelodie im Ohr, wie er allen voran durch die Spielsequenzen jagte, bewundert von seiner Familie, die ihn überschwänglich für seinen Mut lobte. Von wegen! Vor dem Startschuss hatten ihn die Kinder skeptisch gemustert und Vera seinen Unterarm getätschelt. Spätestens da hätte er hochgradig alarmiert sein müssen. So berührte man keinen Helden, sondern einen … Ja, was war er für Vera, was war nach über zwanzig Jahren Ehe geblieben von dem Mann ihrer Träume …? Dieser Albtraum hier?

Endlich – die Tür öffnete sich. Ein Lichtschein fiel ins Zimmer. Sie kamen, um ihn zu befreien! Flora rannte zu ihm ans Bett. Die Gute, sie wird die Fesseln lösen. Mach schnell, Kind!
»Mensch, Papa, du solltest doch deinen Kopf benutzen. Warum hast du denn nicht reagiert? Wir haben die ganze Zeit gerufen!« Flora klang extrem genervt. Sie schlug so heftig auf den Lichtschalter, dass Ferdinand zusammenzuckte.
»Was meinst du? Ich verstehe nicht …«, stammelte er, der Mund noch immer so trocken, aber wie froh war er: endlich Licht und seine Tochter.
»Du hättest nur kurz mit dem Kopf nicken müssen, dann wäre das Licht angegangen. Mensch Papa, das sieht doch ein Blinder, so grell leuchtet der Schalter!«
»Aber es war dunkel«, verteidigte er sich.
Flora wandte sich ab. Das war das Schlimmste. Schlimmer als diese Ewigkeit, die er allein in der Dunkelheit gedarbt hatte.
Jetzt kam auch Raphael herein, würdigte ihn keines Blickes, beugte sich über das Bett, um einen Text an der Wand genauer zu inspizieren. Auch sein Sohn klang hochgradig missgelaunt.
»Ach, da steht es ja. Die umständliche Suche nach dem Schlüssel wäre uns erspart geblieben, wenn er uns das hier mal vorgelesen hätte.«
Gequält drehte Ferdi den Kopf und sah nun auch, dass da etwas an der Wand geschrieben stand. Doch er konnte es nicht entziffern. Seine Lesebrille lag zu Hause auf dem Couchtisch. Nur gut, dass er das jetzt nicht mehr zugeben musste. Er hatte es schon verbockt.
Das war sicher auch Veras Meinung. Seine Frau beachtete ihn gar nicht, sondern wuselte an dem Schreibtisch in der Ecke in Papieren herum. »Ich fange mal an, sie numerisch zu sortieren«, teilte sie ihren Kindern mit.
»Sehr gut, Mama. Vielleicht können wir so noch etwas Zeit gut machen.«

Trotz seiner Niederlage entging es Ferdinand nicht, wie akribisch seine Vera bei der Sache war. Ja, sie hatte Spaß! Letztendlich hatte Ferdinand sich nur ihretwegen auf dieses absurde und dazu noch kostspielige Abenteuer eingelassen. Weil sie so gestrahlt hatte, als die Kinder beim Sonntagsfrühstück mit dieser Idee kamen. Glücklich hatte sie ausgesehen wie schon lange nicht mehr! Und er hatte sie enttäuscht. Sie und die Kinder. Sein Hals wurde eng. Erneut stieg die Panik in ihm auf. Er musste hier raus!
»Jetzt nehmt mir doch endlich mal die Fesseln ab – ich drehe hier gleich durch.« Seine sonst so volltönende Stimme hatte selbst in seinen Ohren etwas Jämmerliches.
»Papa, so einfach ist das nicht«, erklärte Flora. »Wir haben zwar den Schlüssel für die Tür zu deinem Zimmer gefunden. Um dich von den Handschellen zu befreien, müssen wir jedoch weitere Rätsel lösen. Zu blöd, dass du uns mit deiner Passivität voll zurückgeworfen hast. Das schaffen wir nie in einer Stunde.«
Schnaufend stampfte Flora davon, die anderen folgten ihr. Gleich wäre er wieder allein. Wenigstens ließen sie ihm das Schummerlicht. Beim Rausgehen drehte Raffi sich kurz zu ihm um. Seine Worte trafen Ferdinand bis ins Mark. Er kannte den Tonfall nur zu gut – heute allerdings mit vertauschten Rollen.
»Tja, schade, Papa. Ich hatte da echt mehr von dir erwartet.«

Erst in der Pizzeria fühlte Ferdinand sich wieder sicher.
Er trank einen Schluck Rotwein. Das Essen schmeckte ihm nicht. Zu sehr schlug ihm die ganze Situation auf den Magen. Wäre er nur seinem ersten Impuls gefolgt und nach diesem Desaster direkt heimgegangen! Aber er war im Wort. Hatte er doch bei der Planung letzte Woche vollmundig versprochen, sie alle nach dem Spiel zum Italiener einzuladen. Das Lächeln, das Vera ihm auf diese Ankündigung hin zuwarf, war es allemal wert gewesen. Doch die warme Woge ihrer Zuneigung war kalter Missachtung gewichen. Seit seiner Befreiung aus den Handschellen schien er Luft für sie zu sein. Ihn fröstelte unter der Haut, er zitterte leicht. Hatte er einen Schock von seiner Gefangenschaft erlitten? Trauma? Nicht auszuschließen. Oder lag es an Veras eisigem Verhalten? Seinem Automotor hätte er bei solchen Temperaturen Frostschutzmittel in die Kühlerflüssigkeit gemischt. Bestand Frostschutz nicht überwiegend aus Alkohol? Er schaute in das Weinglas in seiner Hand und schwenkte es leicht, bevor er trank. Die Kinder plapperten fröhlich durcheinander und Vera lachte vergnügt mit ihnen. Ihn beachteten sie nicht. Es war ihm recht. Und kränkte ihn. Dieses irre Spiel saß ihm in den Knochen. Waren denn alle verrückt geworden? Zählte jetzt nur noch Horror und maximaler Nervenkitzel? Würde ihn nicht wundern, wenn Raffi als nächste ›Challenge‹ ein Computerspiel raussuchte. Vielleicht der Angriff der Zombie-Apokalypse?
Schade, Papa. Ich hätte da mehr erwartet.
Er sah Raffi schon vor sich, wie er diesmal gönnerhaft auf ihn herunterblickte, während er selbst hilflos mit der Tastatur kämpfte und auf dem mittlerweile ausrangierten Kinderstuhl krampfhaft versuchte, mitzuhalten. Jetzt war Schluss!
Er knallte die Serviette auf den Tisch, trank sein Glas aus und stand auf. »Wenn ihr denkt, dass ihr mich für die nächste Zeit vorführen könnt, dann habt ihr euch geschnitten. Für diese Art von ›Komfortzone verlassen‹ stehe ich nicht mehr zur Verfügung. Ich wünsche euch einen tollen Abend. Amüsiert euch schön.«
Er drehte sich um und hoffte, dass ihm der Abgang gut gelungen war. Zumindest war es still am Tisch. Vera kam ihm hinterher. Sie würde ihn sicherlich umstimmen wollen. Da konnte sie lange betteln. Zügig ging er weiter Richtung Ausgang.
»Halt, Ferdi. Bitte!«
Sie fasste ihn am Ärmel. Er drehte sich zu ihr um. Hoffte auf ihr Flehen, das er ganz cool abschmettern würde. Er würde nicht antworten, nur den Kopf schütteln. Ja, so wäre es gut. Der einsame Wolf, ganz Humphrey Bogart, der den Mantelkragen hochschlägt, bevor er in die verregnete Nacht hinaustritt. Passte nicht ganz. Draußen schien die Abendsonne. Und auch Veras Stimme war so gar nicht mit der Szene aus Casablanca vergleichbar, ihr Tonfall weit entfernt von einer schmachtenden Ingrid Bergmann.
»Mensch, Ferdi, warte, ich hab kein Geld dabei. Könntest du mir bitte dein Portemonnaie dalassen?«